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  1. #1

    Nachricht LYRIK - Der Thread für klassische Gedichte

    Hallo

    Obwohl ich ein Bücherwurm bin, haben Gedichte bei mir sehr lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle gespielt, ich las hin und wieder das ein oder andere, aber das war es dann auch schon.

    Vor einigen Jahren suchte ich Gedichte zum Thema 'Meer' und die, die ich fand, haben mich wirklich begeistert, also suchte ich weiter und entdeckte so immer mehr wundervolle klassische Gedichte zu all' den Themen, die uns berühren. Ich kaufte viele Lyrikbücher, viele hatte ich als Freund der deutschen Romantik sogar schon und heute kann ich mir ein Leben ohne Gedichte nicht mehr vorstellen. Die besten der Lyriker schaffen es, in wenigen Zeilen auszudrücken, wofür andere Romane schreiben müssen.

    So nach und nach möchte ich hier viele klassische Gedichte einstellen und würde mich freuen, wenn andere sich daran beteiligen, aber auch "nur" Leserinnen und Leser sind natürlich herzlich willkommen.


    Der notwendige rechtliche Hinweis.

    Es dürfen natürlich nur Gedichte eingestellt werden, deren Verfasser seit mindestens 70 Jahren verstorben sind, dies gilt leider auch für deutsche Übersetzungen anderssprachiger Gedichte.

    Ein Beispiel: Hans Wollschläger, der große Poe - Übersetzer, starb 2007, sodaß seine Poe - Übersetzungen leider erst im Jahre 2077 hier eingestellt werden dürfen. Ich bin zwar ein Optimist, befürchte aber, dass ich dann wohl doch nicht mehr hier sein werde , jedoch habe ich keine Zweifel daran, dass es dann noch das IOFF Forum geben wird und bitte die Lyrikfreunde der Zukunft, hier ab dem 20.05.2077 mit der Einstellung von Wollschläger's Poe - Übersetzungen zu beginnen, ich werde das von "da oben" überwachen, oder vielleicht auch von "da unten" . . .

  2. #2
    Ich möchte die Sammlung gerne mit meinem Lieblingslyriker beginnen, dem melancholischen Nikolaus Lenau.

    Interessanterweise werden von diesem Gedicht selbst in Fachbüchern sehr häufig nur die ersten drei Strophen abgedruckt, ich selbst bin auch der Meinung, dass die ersten drei Strophen ausgereicht hätten, aber wer bin ich, einen Lenau zu kritisieren ?!



    ***



    Nikolaus Lenau
    (Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenau)
    (1802-1850)




    Winternacht


    Vor Kälte ist die Luft erstarrt,
    Es kracht der Schnee von meinen Tritten,
    Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart;
    Nur fort, nur immer fortgeschritten!

    Wie feierlich die Gegend schweigt!
    Der Mond bescheint die alten Fichten,
    Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt,
    Den Zweig zurück zur Erde richten.

    Frost! friere mir ins Herz hinein,
    Tief in das heißbewegte, wilde!
    Daß einmal Ruh mag drinnen seyn,
    Wie hier im nächtlichen Gefilde!

    Dort heult im tiefen Waldesraum
    Ein Wolf; – wie’s Kind aufweckt die Mutter,
    Schreit er die Nacht aus ihrem Traum
    Und heischt von ihr sein blutig Futter.

    Nun brausen über Schnee und Eis
    Die Winde fort mit tollem Jagen,
    Als wollten sie sich rennen heiß:
    Wach auf, o Herz, zu wildem Klagen!

    Laß deine Todten auferstehn,
    Und deiner Qualen dunkle Horden!
    Und laß sie mit den Stürmen gehn,
    Dem rauhen Spielgesind aus Norden!



    ***

  3. #3
    Theodor Fontane, der große Poet, war mit seinen Gedichten eher unzufrieden. Ich habe eine Komplettausgabe (1.200 Seiten) seiner Gedichte und als ich dieses hier las, hat es mich wirklich umgehauen.

    Es ist so melancholisch, aber ist es nicht gerade das, was uns tief im Innersten berührt?




    ***



    Theodor Fontane
    (1819-1898)




    Mein Leben


    Mein Leben, ein Leben ist es kaum,
    Ich gehe dahin, als wie im Traum.

    Wie Schatten huschen die Menschen hin,
    Ein Schatten dazwischen ich selber bin.

    Und im Herzen tiefe Müdigkeit –
    Alles sagt mir: Es ist Zeit …




    ***

  4. #4
    Wer nun glaubt, Gedichte seien nur etwas für Melancholiker, dem möchte ich dieses Gedicht von Wilhelm Busch vorstellen.

    Als Gast einer Hochzeit wurde ich gebeten, etwas in das Hochzeitsalbum des Brautpaares zu schreiben. Statt des üblichen Blabla schrieb ich dort dieses Gedicht von Busch hinein, was die Freundschaft zu dem Brautpaar deutlich abkühlte, hahaha



    ***



    Wilhelm Busch
    (1832-1908)




    Der Einsame


    Wer einsam ist, der hat es gut,
    Weil keiner da, der ihm was tut.
    Ihn stört in seinem Lustrevier
    Kein Tier, kein Mensch und kein Klavier,
    Und niemand gibt ihm weise Lehren,
    Die gut gemeint und bös zu hören.

    Der Welt entronnen, geht er still
    In Filzpantoffeln, wann er will.
    Sogar im Schlafrock wandelt er
    Bequem den ganzen Tag umher.
    Er kennt kein weibliches Verbot,
    Drum raucht und dampft er wie ein Schlot.

    Geschützt vor fremden Späherblicken,
    Kann er sich selbst die Hose flicken.
    Liebt er Musik, so darf er flöten,
    Um angenehm die Zeit zu töten,
    Und laut und kräftig darf er prusten,
    Und ohne Rücksicht darf er husten.

    Und allgemach vergißt man seiner.
    Nur allerhöchstens fragt mal einer:
    Was, lebt er noch? Ei, Schwerenot,
    Ich dachte längst, er wäre tot.
    Kurz, abgesehn vom Steuerzahlen,
    Läßt sich das Glück nicht schöner malen.

    Worauf denn auch der Satz beruht:
    Wer einsam ist, der hat es gut.



    ***

  5. #5



    ***


    Gerrit Engelke
    (1890-1918)




    Am Meerufer


    Und Welle kommt und Welle flieht,
    Und der Wind stürzt sein Lied,
    Schaumwasser spielt an deine Schuhe
    Knie nieder, Wandrer, ruhe.

    Es wälzt das Meer zur Sonne hin,
    Und aller Himmel blüht darin.
    Mit welcher Welle willst du treiben?
    Es wird nicht immer Mittag bleiben.

    Es braust ein Meer zur Ewigkeit,
    In Glanz und Macht und Schweigezeit,
    Und niemand weiß wie weit –
    Und einmal kommst du dort zur Ruh,
    Lebenswandrer, Du.


    ***

  6. #6
    ***


    Max Dauthendey
    (1867-1918)




    Wir gehen am Meer im tiefen Sand


    Wir gehen am Meer im tiefen Sand,
    Die Schritte schwer und Hand in Hand.
    Das Meer geht ungeheuer mit,
    Wir werden kleiner mit jedem Schritt.

    Wir werden endlich winzig klein
    Und treten in eine Muschel ein.
    Hier wollen wir tief wie Perlen ruhn,
    Und werden stets schöner, wie die es Perlen tun.



    ***

  7. #7
    Heute einige Aphorismen.




    ***


    Man sollte nicht mehr Respekt vor dem Gesetz haben,
    als vor dem, was recht ist.

    Henry David Thoreau


    ***


    Zeit haben nur diejenigen, die es zu nichts gebracht haben
    und damit haben sie es weiter gebracht, als alle anderen.

    Giovanni Guareschi


    ***


    Für das praktische Leben ist das Genie so brauchbar,
    wie ein Sternenteleskop im Theater.

    Arthur Schopenhauer


    ***

  8. #8

    Adalbert Stifter
    (1805-1868)




    ***



    Müdigkeit


    Ich hab' geruht an allen Quellen,
    Ich fuhr dahin auf allen Wellen,
    Und keine Straße ist, kein Pfad,
    Den irrend nicht mein Fuß betrat.

    Ich hab' verjubelt manche Tage,
    Und manche hin gebracht in Klage,
    Bei Büchern manche lange Nacht,
    Und andere beim Wein durchwacht.

    Viel mißt' ich, viel hab' ich errungen,
    Auch Lieder hab' ich viel gesungen,
    Und ausgeschöpft hat dieses Herz
    Des Lebens Lust, des Lebens Schmerz.

    Nun ist der Becher leer getrunken,
    Das Haupt mir auf die Brust gesunken,
    Nun legt' ich gern mich hin und schlief',
    Unweckbar, traumlos, still und tief!

    Mir ist, mir ist, als hört ich locken
    Von fernher schon die Abendglocken,
    Und süße, weiche Traurigkeit
    Umweht mich: Komm, 's ist Schlafenszeit.



    ***

  9. #9

    August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
    (1798-1874)




    ***


    Der Weihnachtsbaum


    Von allen den Bäumen jung und alt,
    Von allen den Bäumen groß und klein,
    Von allen in unserm ganzen Wald,
    Was mag doch der allerschönste sein?
    Der schönste von allen weit und breit
    Das ist doch allein, wer zweifelt dran?
    Der Baum, der da grünet allezeit,
    Den heute mir bringt der Weihnachtsmann. -

    Wenn Alles schon schläft in stiller Nacht,
    Dann holet er ihn bei Sternenschein
    Und schlüpfet, eh' einer sich's gedacht,
    Gar heimlich damit ins Haus hinein.
    Dann schmückt er mit Lichtern jeden Zweig,
    Hängt Kuchen und Nüss' und Äpfel dran:
    So macht er uns Alle freudenreich,
    Der liebe, der gute Weihnachtsmann.


    ***

  10. #10

    August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
    (1798-1874)



    ***


    Der Traum



    Ich lag und schlief; da träumte mir
    Ein wunderschöner Traum:
    Es stand auf unserm Tisch vor mir
    Ein hoher Weihnachtsbaum.

    Und bunte Lichter ohne Zahl,
    Die brannten ringsumher;
    Die Zweige waren allzumal
    Von goldnen Äpfeln schwer,

    Und Zuckerpuppen hingen dran;
    Das war mal eine Pracht!
    Da gab's, was ich nur wünschen kann
    Und was mir Freude macht.

    Und als ich nach dem Baume sah
    Und ganz verwundert stand,
    Nach einem Apfel griff ich da,
    Und alles, alles schwand.

    Da wacht ich auf aus meinem Traum,
    Und dunkel war's um mich.
    Du lieber, schöner Weihnachtsbaum,
    Sag an, wo find ich dich?

    Da war es just, als rief er mich:
    "Du darfst nur artig sein;
    Dann steh ich wiederum vor dir;
    Jetzt aber schlaf nur ein!

    Und wenn du folgst und artig bist,
    Dann ist erfüllt dein Traum,
    Dann bringet dir der heil'ge Christ
    Den schönsten Weihnachtsbaum."



    ***

  11. #11
    .
    Ada Christen
    (1839-1901)



    ***


    Christbaum


    Hörst auch du die leisen Stimmen
    aus den bunten Kerzlein dringen?
    Die vergessenen Gebete
    aus den Tannenzweiglein singen?
    Hörst auch du das schüchternfrohe,
    helle Kinderlachen klingen?

    Schaust auch du den stillen Engel
    mit den reinen, weißen Schwingen?...
    Schaust auch du dich selber wieder
    fern und fremd nur wie im Traume?
    Grüßt auch dich mit Märchenaugen
    deine Kindheit aus dem Baume?...



    ***

  12. #12
    Am Brunnen vor dem Tore (ca. 1823)

    Der ursprüngliche Titel lautet "Der Lindenbaum". Der Text stammt von Wilhelm Müller und gehört zu einem Gedichtzyklus, den Müller mit "Die Winterreise" überschrieb. Franz Schubert vertonte den gesamten Gedichtzyklus, aber populär wurde das Gedicht in der Vertonung von Friedrich Silcher.



    ***



    Johann Ludwig Wilhelm Müller
    (1794-1827)



    Am Brunnen vor dem Thore



    Am Brunnen vor dem Thore
    Da steht ein Lindenbaum:
    Ich träumt’ in seinem Schatten
    So manchen süßen Traum.

    Ich schnitt in seine Rinde
    So manches liebe Wort;
    Es zog in Freud und Leide
    Zu ihm mich immer fort.

    Ich mußt’ auch heute wandern
    Vorbei in tiefer Nacht,
    Da hab’ ich noch im Dunkel
    Die Augen zugemacht.

    Und seine Zweige rauschten,
    Als riefen sie mir zu:
    Komm her zu mir, Geselle,
    Hier findst Du Deine Ruh’!

    Die kalten Winde bliesen
    Mir grad’ in’s Angesicht;
    Der Hut flog mir vom Kopfe,
    Ich wendete mich nicht.

    Nun bin ich manche Stunde
    Entfernt von jenem Ort,
    Und immer hör’ ich’s rauschen:
    Du fändest Ruhe dort!



    ***



    Hier bietet sich nun die schöne Gelegenheit, zwei Vertonungen des Gedichtes einzustellen, zuerst eine klassische, gesungen von dem großartigen Hermann Prey.



  13. #13
    Und hier nun eine moderne und furiose Fassung des "Brunnens vor dem Tore".


    Achim Reichel - Der Lindenbaum - Live in Hamburg 2003


  14. #14
    Heute kann ich es kaum glauben, dass ich die Werke dieses Dichters und Philosophen erst seit einem Jahr kenne .

    Diese Worte über Kinder sind ebenso wahr wie berührend.




    ***



    Khalil Gibran
    (1883-1931)




    Eure Kinder


    Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
    Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht
    des Lebens nach sich selber.

    Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
    Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

    Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,
    aber nicht eure Gedanken,
    Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

    Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,
    aber nicht ihren Seelen,
    Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,
    das ihr nicht besuchen könnt,
    nicht einmal in euren Träumen.

    Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,
    aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
    Denn das Leben läuft nicht rückwärts
    noch verweilt es im Gestern.

    Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder
    als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
    Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
    und er spannt euch mit seiner Macht,
    damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

    Laßt eure Bogen von der Hand des Schützen
    auf Freude gerichtet sein;
    Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt,
    so liebt er auch den Bogen, der fest ist.



    ***



  15. #15
    .
    ***



    Rainer Maria Rilke
    (René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke)
    (1875-1926)




    Ich lebe mein Leben


    Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
    die sich über die Dinge zieh'n.
    Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
    aber versuchen will ich ihn.

    Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
    und ich kreise jahrtausendelang,
    und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
    oder ein großer Gesang.




    ***


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