Den Begriff finde ich wirklich ganz schlimm und verstehe auch wirklich nicht, wie man den ernsthaft verwenden kann. Oder überzeugt ist, dass es neuerdings eine "Cancel Culture" gibt.
Seit ich jugendlich war, nehme ich Diskussionen folgendermaßen wahr: Person A sagt seine Meinung (und begründet sie vielleicht auch mit Argumenten). Person B stimmt dem zu oder hat eine andere Meinung. Die er dann im Idealfall mit Argumenten und/oder Quellen belegt. Natürlich können noch mehr Personen an einer Diskussion teilnehmen. Sowohl privat, als auch öffentlich.
Dann gibt es meiner Meinung nach eine Art "Mehrheitsmeinung" - also Ansichten zu bestimmten Themen, die in der Öffentlichkeit eine große Zustimmung finden.
Nehmen wir doch mal das große Thema Umweltschutz mit all seinen Facetten. In meiner Wahrnehmung wurde das in Deutschland vor allem von den Grünen als Thema eingeführt bzw. ein Bewusstsein dafür geschaffen. Irgendwann Anfang der 80er (falls ich falsch liege, gerne korrigieren). Zu dieser Zeit war es doch aber eine Mehrheitsmeinung, dass Atomstrom doch ganz okay ist. Die Grünen haben gesagt "Atomkraft? Nein Danke!" und Großteil von Deutschland "Atomkraft ja bitte." Da wäre niemand auf die Idee gekommen, dass die Grünen geculurecancelt werden.
Oder ein anderes Thema (vielleicht nicht ganz passend): Auch wenn in Deutschland Kirche bzw. Religion und Staat getrennt sind, haben die katholische und evangelische Kirche einen großen Einfluss in Deutschland. Früher viel stärker übrigens als heute. Hat - vor allem die katholische Kirche - vor 40 Jahren noch gesagt, dass Homosexualität unnormal (oder ähnliches) sei, haben dem wohl die meisten zugestimmt.
Sagt die katholische Kirche (in Form ihrer Angestellten) heute so etwas in der Richtung (was durchaus passiert), bekommt sie zu Recht Wiederspruch. Sprechen wir dann da auch von Cancel Culture?
Und das ist auch das, was mich an dem Video von JJL und ihm selbst gestört hat: Er hat ironisch behauptet, die Medien würden alle das Gleiche schreiben bzw. zu denken vorgeben (er hatte dann sogar später noch die Chupze zu sagen, dass er seit Weihnachten gar keine Medien mehr konsumiert - also da war ich gedanklich schon etwas raus bzw. fühlte mich irgendwie verarscht) und hatte dann die mediale Woche seine Lebens. In Sendungen des ÖRR. Und in Zeitungen wie der Zeit. Wo wurde er denn da bitte daran gehindert, seine Meinung öffentlich zu sagen? Hat er Jobs verloren? Ist er sozial geächtet?
Auch der weitverbreiteten Meinung, dass Journalisten bzw. Zeitungen etc. eher links sind, widerspreche ich. Niemand, der mal den Fokus, die Bild oder Cicero gelesen hat, kann das behaupten.
Meinungsfreiheit bedeutet doch nicht, dass ich ein Recht darauf habe, dass meiner Meinung nicht widersprochen wird. Das gab es in Deutschland während der NS-Zeit und in der ehemaligen DDR. Aber doch nicht heute. Und auch nicht vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Das ist doch Geschichtsverklärung.
Was ich allerdings auch empfinde ist, dass die Themen und Aufreger heute viel schneller kommen - die Säue werden immer schneller durch Dörfer gejagt. Und viele Sachen werden sicherlich auch aufgeblasen - von den Medien, von Politikern teilweise und auch von uns. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Und versuche das manchmal auch wirklich zu ändern.
Und die sozialen Medien verschlimmern diese Spirale noch.
Einen Trump hätte doch vor rund 20 Jahren kaum einer wirklich ernst genommen (zu Recht) - auch in den USA nicht. Die Geschichte hat dann gezeigt, wie es ist, wenn auf einmal alles bewertet und berichtet wird von so einem Typ. Das fing meiner Meinung nach mit der Birther-Lüge von Trump an. Da hätten meiner Meinung nach die Medien anders mit umgehen müssen.