Wir leben in einer Umbruchszeit. Für mich persönlich ist es das Patriarchat, welches abdankt. Bzw. abdanken muss, weil sich mit den hierarchischen Verhältnissen, die das Patriarchat seinerzeit begründet hat, keine Vielfalt von Lebensformen realisieren lässt, wie sie mir und vielen, vielen anderen Menschen vorschwebt. Heisst, für mich: Patriarchalische Verhältnisse müssen verschwinden, um überhaupt noch menschlichen Fortschritt zu ermöglichen.
Für andere ist es der Kolonialismus, der abdankt. Bzw. abdanken muss, weil sich mit der Ausbeutung von Menschen durch Menschen - aber auch mit der Ausbeutung von Tierwelt und Pflanzenwelt durch Menschen, bis hin zur Ausbeutung der planetaren Ressourcen - die Erde als menschlicher Lebensraum nicht erhalten lässt.
Was wir hier diskutieren (... aber auch z.B. im "Gender-und-Sprache-Thread"), sind die kulturellen Zeichen dieses Wandels. Sprache ändert sich, und Bedeutungen ändern sich.
Wenn ich mich als Bewohnerin und Bürgerin dieses Planeten verstehe (... und das tue ich tatsächlich), sind alle jene Kulturen und Völker, die vormals durch europäische Herrschaftsverhältnisse ausgebeutet wurden, meiner Kultur und meiner tradierten Lebensform ebenbürtig. Wenn ich entsprechend Respekt bekunden will, muss ich mir bewusst sein, dass es - auch jetzt, hier und heute - ein koloniales Erbe gibt, welches Angehörigen dieser Kulturen und Völker den Respekt verweigert. Und ich gebe mir Mühe, mit Bedacht über "andere" zu reden. WEIL das für mich keine "anderen" sind, sondern Menschen auf Augenhöhe.
Diese Haltung verbietet mir zum Beispiel, "Mohrenkopf" zu bestimmten Süssigkeiten zu sagen, wie es immer noch die Mehrheit meiner Schweizer Mitbürgerinnen und Mitbürger tut. Und sie gebietet mir, bestimmten Geschichten "von früher", die ein koloniales Welterbe spiegeln, entsprechend reflektiert zu begegnen. WEIL sich die Dinge ändern. Und weil sie das GOTTSEIDANK tun. Wir Europäer sind nicht mehr die Herren der Welt - und unsere Kultur ist anderen Kulturen in keiner Weise überlegen.
Jetzt kommt die Differenzierung: ERSTENS ist es äusserst schwierig, kulturelle Minenfelder gefahrlos zu begehen, ohne entsprechendes Kartenwerk. Vor allem, wenn sich die Karten immer wieder ändern. Das heisst, ich bin äusserst geduldig und nehme nicht gleich jedes "politisch unkorrekte" Wort, welches mir nahestehende Menschen in den Mund nehmen, als kulturelle Schande wahr. Umbrüche brauchen Zeit.
Und ZWEITENS bin ich kategorisch gegen den Begriff, der hier im Titel steht: "Cancel Culture" ist nämlich ein Schlagwort, welches die Rückwärtsgewandten verwenden, als Kampf- und Schimpfbegriff. Genauso wie sie den Begriff "woke" als Kampf- und Schimpfbegriff verwenden. Ich nehme solche Wörter ganz bewusst nicht in den Mund.
Es gibt stattdessen den Begriff "Callout Culture". Damit ist schlicht gemeint, dass man seine lieben Mitmenschen auf problematisches Reden und Handeln aufmerksam macht. Unzeitgemässe Herrschaftsverhältnisse öffentlich ansprechen: Darum geht es bei der Callout Culture. Und das kann sehr wohl zu unangenehmen Situationen führen, weil halt auch Tabus (... wie sexuelle Belästigung, Witze über Minderheiten, oder eben Kinderbücher mit Inhalten, die an koloniale Zeiten erinnern) öffentlich zur Diskussion gestellt werden. Ich finde das persönlich super und unterstütze es.
ABER: Im Umkehrschluss verurteile ich das "Canceln" von Personen, Anlässen oder Äusserungen, und zwar aufs Schärfste. Historische Kinderbücher sind nicht zu zensieren oder aus Bibliotheken zu entfernen, sondern mit einer redaktionellen Vorbemerkung zu versehen, die auf die koloniale Vergangenheit verweisen kann. Personen mit unzeitgemässen Ansichten sollen diese Ansichten weiterhin öffentlich vertreten dürfen. Aber sie müssen sich gefallen lassen, dass man diese Ansichten in Frage stellt und sogar die Kompetenz als solche anzweifelt. Weil ich erwarten darf (... z.B. von Akademikern, Experten oder Kolumnisten), dass sie auch noch im höheren Alter zum Dazulernen bereit sind. Weil sich kulturelle Verhältnisse, Sprache und Bedeutungen gerade rasant schnell ändern.